Moin, tach und Glück auf! Wie wir natürlich alle wissen, ist heute der Lass-uns-lachen-Tag: Zu diesem grandiosen Anlass gibt es von mir einen neuen Beitrag, der hoffentlich dem heutigen Tag auch gerecht wird. Viel Spaß!
Postkarte, gedimmtes Licht, Bierfleck
Wieder einmal sitze ich in meiner Stammkneipe, vor mir ein Bier. Eines von vielen. Die genaue Anzahl könnte mir mein Deckel verraten, wenn ich denn noch in der Lage wäre zu zählen. Die Uhr sagt mir, dass ich schon seit über drei Stunden auf dem Barhocker sitze. Wahrscheinlich sollte ich jetzt auch nach Hause gehen. Und deshalb mache ich das in dieser Situation einzig Vernünftige: Ich bestelle ein weiteres Bier sowie einen Kurzen.
Wenn ich mich so umschaue, blicke ich in Gesichter trauriger Gestalten und ich frage mich, ob die anderen hier Anwesenden genauso über mich denken. Die Menschen verstecken sich hier an diesem Ort im dunstigen, gedimmten Licht der Kneipe. Aber wovor eigentlich? Vor ihrem Leben, ihren Familien oder sich selbst? Die meisten sind jenseits der 40 und die Mehrheit ist, wenn nicht alleine, dann aber trotzdem einsam. Ich versuche mir zu den einzelnen Schatten ihrer selbst eine Geschichte auszudenken, um mir die Langeweile zu vertreiben und mich abzulenken. Ich lasse meinen Blick schweifen. Von der Zapfanlage hinter der Theke über den Spielautomaten, vorbei an einem glücklich aussehenden Pärchen. Weiß der Teufel warum die ausgerechnet heute ihren Abend hier verbringen. Naja, ist auch ziemlich egal.
Mein Blick wandert noch ein Stück weiter nach links, bis ich dann bei einem älteren Mann hängen bleibe, der sich gerade eine, schon in die Jahre gekommene, Pfeife anzündet. Nur schwer herauszumeißeln, ob er oder sein Rauchmedium älter ist. Ihn schätze ich auf über 70 ein, also schon seit einigen Jahren im Ruhestand. Sein Gesichtsausdruck sagt mir: … nichts! Ein leerer Blick, der da von seinen Augen hervorgebracht wird. Und er schaut geradeaus ins … nichts! Na das passt ja wie der Sarg ins Grab, denke ich mir. Sein Gesicht wirkt etwas eingefallen und ist zerfurcht von Falten. Würde man den Grand Canyon in ein Gesicht meißeln: In etwa so würde es wohl aussehen. Die paar graue Fusseln, die er noch auf dem Kopf hat, versucht er nicht einmal mehr so herzurichten, dass es anständig aussieht. Wobei das vermutlich auch keinen besonders großen Unterschied zum status quo ausmachen würde, denn der Rest von ihm sieht auch nicht besser aus, als ein überfahrenes Eichhörnchen in den Wintermonaten. Das hätte ja zumindest auch noch ein Fell: also Haare!
Ich schweife ab. Nun denn: Sein Kleidungsstil lässt sich perfekt folgendermaßen beschreiben: unauffällig, langweilig oder auch: total blöd. Ob er einen Spiegel zu Hause hat? Falls nicht, würde diese Tatsache zumindest so einiges erklären.Die Sandalen, die braune, fleckige, zu kurze Hose, das uralte, verwaschene Polohemd und die löchrige beige-farbene Jacke – traumhafte Kombination! Ich checke bei der Gelegenheit mal ab, was ich eigentlich so trage, denn wie jeder weiß: „Wer im Schlachthaus sitzt, sollte nicht mit Schweinen werfen.“ Weiße Schuhe, blaue Jeans, solides T-Shirt: alles gut, beschließe ich und widme mich gedanklich wieder dem Mann. Welche Geschichte wohl hinter dieser ausdruckslosen Fassade stecken mag? Warum sitzt dieser Mann heute Abend alleine hier und betrinkt sich? Vielleicht hat er vor einigen Jahren seine Frau verloren. Vielleicht war sie alles was er in seinem Leben hatte. Und seine Kinder? Vielleicht hat er gar keine oder sie besuchen ihn nie, sondern schicken im besten Fall höchstens mal eine Postkarte, wenn sie mal wieder mit ihren eigenen Familie im Urlaub gewesen sind oder melden sich nur, wenn sie Geld brauchen, monologisiere ich in Gedanken vor mich hin. Möglicherweise hätten die beiden ja heute ihren Hochzeitstag oder Jahrestag gehabt und sie haben ihn in der Vergangenheit oft hier zusammen verbracht. Genau hier, an diesem Tisch, auf diesen Plätzen. Ich könnte natürlich zu ihm rübergehen und ihn in ein Gespräch verwickeln, um etwas über ihn herauszufinden, entscheide mich aber aus zwei Gründen dagegen: 1. Er sieht nicht danach aus, als wäre er besonders motiviert ein Gespräch mit mir zu führen. Und 2. Ich bin so überhaupt gar nicht motiviert ein Gespräch mit ihm zu führen.
Ich werde plötzlich durch eine enorme Geräuschexplosion aus meinen abschweifenden Gedanken gerissen. Während ich versuchte mir die Geschichte des alten Mannes auszumalen, muss sich jemand an den Glücksspielautomaten gesetzt und danach auch noch, just in diesem Moment, den Jackpot geknackt haben. Ich schaue also rüber zum Automaten und dem Mann, der auf einem Barhocker davor sitzt, sich irritierender Weise aber kaum über seinen Gewinn zu freuen scheint. Woran das wohl liegen mag? Spontan fallen mir zwei Möglichkeiten ein: Entweder er hat den Automaten vorher selbst so ordentlich gefüttert, dass der Jackpot gerade mal seinen Verlust ausgleicht, oder aber ihm ist in diesem Moment eingefallen, dass er den Gewinn mit seiner Ex-Frau teilen muss, sobald diese davon erfährt.
Während sein Gewinn ausgeschüttet wird und das Gerät wie wild blinkt und in allen erdenklichen Farben leuchtet, bestellt er einen Klaren, den er auch umgehend herunterstürzt. Anschließend nimmt er einen letzten beherzten Zug von seiner Marlboro, steckt sein Geldbündel, bis auf einen Schein, in seine Jackentasche, bevor er dann, am Tresen vorbei, Richtung Ausgang schlurft. Auf dem Weg legt er einen 50€-Schein auf die Theke, murmelt dazu noch irgendetwas Unverständliches und dann ist die Kneipe um einen bemitleidenswertes Wesen ärmer. Oder sollte ich besser sagen: um die Abwesenheit eines bemitleidenswerten Mannes reicher?
Beim Versuch mir elegant eine Zigarette anzuzünden, stoße ich sehr unelegant ungünstig mit dem Arm gegen mein Bierglas, das unglücklicherweise noch nicht leer ist, versuche es direkt mit der anderen Hand noch zu retten, aber mache es damit eher noch schlimmer, weil es dadurch direkt auf meiner Hose landet und einen wirklich sehr, sehr dezenten Bierfleck hinterlässt. Ich blicke kurz auf, aber offensichtlich hat niemand mein Missgeschick mitbekommen oder aber es wird konsequent ignoriert. Naja, niemand ist dann doch nicht ganz richtig. Der Kellner hat es zur Kenntnis genommen und reicht mir kurzerhand einen Lappen und natürlich ein frisches Getränk. Ich bedanke mich, nicke kurz freundlich und versuche meine Hose notdürftig wieder zu trocknen.
Ich lasse meinen Blick erneut durch den Raum schweifen. Dieses mal bleibt er bei einer etwas jüngeren Frau hängen, die in einer der Ecken Platz genommen hat. Sie ist ebenfalls alleine, aber ihr Blick ist nicht von Leere geprägt, sondern vielmehr von Trauer. Ich schätze sie auf Anfang/Mitte 20 ein, also etwa in meinem Alter. Aber aufgrund der Umstände vertraue ich meinem Urteil selbst nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob es an meiner Situation liegt oder dem Alkoholpegel, aber in diesem Augenblick erscheint mir die Frau durchaus nicht unattraktiv. Sie hat lange Haare, die ihr links und rechts über die Schultern fallen, einige auch vor ihrem Gesicht, weshalb ich dieses nicht so richtig erkennen kann. Ich versuche ihre Augenfarbe zu identifizieren, muss aber schnell konstatieren, dass es beim Versuch bleiben wird. Was sagt mir ihr Kleidungsstil? Schwarze Stiefel mit niedrigem Absatz, schwarze Strumpfhose, unauffälliges, helleres Top mit durchschnittlichem Ausschnitt, darüber ein offener, grauer Cardigan. Sie spielt gerade mit ihren kleinen, zarten Fingern an einem halb vollen Rotweinglas herum. Die Armbanduhr an ihrem linken Handgelenk verrät mir, dass sie vermeintliche Rechtshänderin ist. An der anderen Hand meine ich ein Armband erkennen zu können, aber möglicherweise ist es nur ein Haargummi.
Ich versuche nicht zu ihr hinüberzustarren, sondern sie unauffällig zu beobachten. „Gefällt mir irgendwie“, höre ich mich leise zu mir sagen. Ich bestelle ein weiteres Bier und frage mich selbst, aus welchem Grund ich eigentlich heute hier gelandet bin. Ich bin zwar nicht gerade selten hier, aber normalerweise nie alleine. Doch nach wenigen Sekunden fällt es mir wieder ein. Heute ist Dienstag, heute ist der 14. des Monats und es ist Februar.
Hey! – Kurzzeitig hatte das sogar wirklich mal funktioniert: zu vergessen, welcher Tag heute ist und dass es einem eigentlich total bescheiden geht. Zumindest bis vor einem Augenblick. Und dann überkommt mich ein ganz anderer Gedanke: Vielleicht sollte ich zu ihr rübergehen, etwas über sie herausfinden, sie in ein nettes Gespräch verwickeln. Ist allemal besser als weiter hier sitzen zu bleiben, still ein Bier nach dem anderen zu trinken und sich Geschichten über die anderen Gäste auszudenken. Nein! Es ist ganz bestimmt viel besser wirklich etwas über die Menschen herauszufinden und sich mit ihnen zu unterhalten. Ansonsten bilde ich mir nur Vorurteile und schätze diese Personen total falsch ein. Mal ganz davon abgesehen: Die Frau ist wirklich attraktiv! Also bestelle ich einen Rotwein und ein Bier, nehme die Getränke und gehe herüber zu ihr, um sie dann mit einem Lächeln und einem freundlichen „Hallo“ anzusprechen …